Lenny hörte den Aufprall, bevor er begriff, was geschehen war. Ein dumpfes Klatschen, ein letzter Atemzug – dann Stille. Es war kurz nach Mitternacht, hinter der Bar „Exit“ am Bahnhof. Ein heruntergekommener, schmutziger Ort, wo sich das kalte Neonlicht auf dem regennassen Asphalt spiegelte.
Er war auf dem Heimweg, erschöpft von der Arbeit bei der Stadtreinigung. Streit wollte er nie – nicht an diesem Abend, nicht überhaupt. Doch dann war da dieses Mädchen. Und der Mann, der sie festhielt: zu grob, zu laut.
„Hey! Lass sie!“, hatte Lenny gerufen.
Der Typ hatte sich umgedreht, mit einem Blick voller Wut. Er packte Lenny an den Schultern. Der Schlag war ein Reflex gewesen – nur einer. Der Mann stürzte rückwärts gegen die Hauswand, prallte mit dem Kopf an die Mauer und sackte zusammen wie ein nasser Sack.
Das Mädchen starrte entsetzt, den Mund geöffnet, von Lenny zu dem Gestürzten – dann stieß sie einen schrillen Schrei aus und rannte in die Dunkelheit davon. Lenny stand nur da, keuchend. Dann trat er einen Schritt näher. Der Mann lag still. Keine Bewegung. Blut sickerte aus seinem Ohr. Lennys Gedanken jagten im Kreis. Begreifen konnte er es nicht. Dann lief er los.
Shortstory: Das Böse das er nie wollte

Am nächsten Tag lag Lenny im Bett, das Handy auf dem Bauch. Schon seit den frühen Morgenstunden hatte er die Nachrichten verfolgt. Als „Breaking News“ das lokale Programm unterbrachen, wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Eine Nachrichtensprecherin mit unangenehm heller Stimme berichtete: „Hinter der Bar ,Exit‘ wurde ein Toter gefunden. Die Polizei geht von einem Gewaltverbrechen aus und bittet um Hinweise.“
Lenny schloss die Augen. Seine Gedanken waren schwer wie nasse Steine. Zur Polizei gehen? Und was sagen? Dass er nur helfen wollte? Und dass er nicht wusste, wie hart der Schlag gewesen war? Dass er gehofft hatte, der Mistkerl würde überleben?
Er hatte nie eine Anzeige wegen Körperverletzung bekommen. Aber auch keine Zeugen für seine gute Absicht. Er fühlte sich wie ein Versager – wieder einmal. Nichts in seinem Leben lief so, wie es sollte. Und nun das: Er hatte einen Menschen getötet.
Er blieb liegen. Den ganzen Tag. Und den nächsten. Erst als sein Chef sich wegen der unentschuldigten Fehlzeiten meldete, schleppte sich Lenny wieder zur Arbeit. Innerlich zerrissen, verfolgt von Schuldgefühlen. Immer wieder sah er das blutende Gesicht vor sich. Und dieses halbnackte, panische Mädchen, das einfach verschwunden war.
Einige Tage später kam er erneut an der Bar vorbei. Menschen hatten Blumen und Stofftiere abgelegt – genau dort, wo der Mann gestürzt und offenbar auch gestorben war. Pappschilder mit verwaschener Schrift fragten: „Warum?“ Lennys Magen zog sich zusammen, er musste würgen. Da sprach ihn jemand an.
„Du warst das, oder?“
Lenny fuhr herum. Ein junger Mann stand vor ihm, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
„Ich hab euch gesehen. Euch drei: dich, den Typen, die Tussi.“
Lenny schwieg. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
„Du hast ihn umgebracht. Und warst ganz schön schnell weg. Ich hab alles auf Video.“
Der Typ zog ein Handy aus der Jacke und hielt es Lenny provokant vors Gesicht.
„Ich will kein Theater. Nur deine Hilfe. Geld. Nicht viel. Sagen wir … fünfhundert Euro?“
Lenny brachte kein Wort hervor. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Der Fremde drückte ihm einen zerknitterten Zettel in die Hand und verschwand im Gedränge.
Shortstory: Das Böse das er nie wollte
Im Pausenraum der Stadtreinigung stand die alte Blechdose mit dem Aufkleber „Trinkgeld, Kippen, Kaffee“. Niemand zählte, jeder nahm mal was. Also griff Lenny zu. Er redete sich ein, das Geld bald zurückzulegen. Welche Wahl hatte er schon?
Er brachte das Geld zu dem Ort, der auf dem Zettel stand: ein Schließfach im Schwimmbad. Natürlich war das feige, falsch, schäbig. Aber besser als die Alternative – erwischt zu werden. Doch besser ging es ihm danach nicht. Seine Hände zitterten beim Kaffeetrinken, beim Essen, bei der Arbeit. Es war diese lähmende Mischung aus Scham, Wut – und dem Gefühl, dass mit jedem Tag ein Stück von ihm verloren ging.
Vier Tage später, vor seinem Wohnhaus: Der junge Mann stellte sich ihm erneut in den Weg.
„Noch mal 500. Dann bin ich raus“, zischte er – und verschwand.
Lenny blieb zurück. Fassungslos. Sein Chef hatte ihn gerade erst darauf hingewiesen, dass das gestohlene Geld zurückgelegt werden müsse – andernfalls drohten Konsequenzen. Und nun das. Der Erpresser wollte noch mehr.
Lenny konnte nicht mehr schlafen. Das Mädchen. Der Schlag. Der Aufprall. Das Blut. Die Hand auf seiner Schulter. Der Chef. Die Polizei. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Seine Welt fühlte sich an wie Wände, die immer enger kamen – bereit, ihn zu zerquetschen.
Am Abend fand er einen neuen Zettel im Briefkasten: „Heute Nacht. 23 Uhr. Waggonhalle am alten Güterbahnhof. 500.“ Lenny ging hin. Ohne Geld. Ohne Plan. Nur mit einem rostigen Hammer aus dem Werkzeugschrank der Stadtreinigung, versteckt im Jackenärmel.
Der Erpresser wartete schon. Kapuze tief im Gesicht, Zigarette im Mundwinkel. Er wirkte siegessicher.
„Na? Schön brav?“ Lenny zog langsam den Hammer hervor.
„Du zwingst mich nicht nochmal zu blechen“, sagte er leise. Der Typ grinste nur.
„Was willst du tun, du dämliche Pissnelke? Zuschlagen? Wär ja nicht dein erstes Mal, Mörder.“ Er zog erneut sein Handy. Lenny schlug zu. Der Hammer krachte auf das Smartphone – nicht auf den Erpresser. Das Gerät flog zu Boden, ein zweiter Schlag zertrümmerte es endgültig. Plastik splitterte, Metall bog sich. Schrott.
„Ich mach nicht weiter“, sagte Lenny tonlos. „Keine Toten mehr. Überhaupt nichts Böses mehr.“ Er sprach mehr zu sich selbst als zu dem anderen. Der hob abwehrend die Hände, musterte ihn – und verschwand.
Shortstory: Das Böse das er nie wollte
Lenny blieb allein zurück. Schwer atmend, den Hammer in der Hand. Dann ließ er ihn fallen. Stand noch einen Moment da. Dann ging er los. Er hatte ein neues Ziel. Gegen Mitternacht betrat er das Parkhaus beim alten Krankenhaus. Neunter Stock – der höchste Punkt der Umgebung. Wind zerrte an seiner Jacke, als er die quietschende Stahltür zum Dach öffnete. Niemand war da. Er war allein. Er trat an den Rand und blickte in die Tiefe. Dann zog er sein Handy, schrieb eine kurze Nachricht – und löschte sie wieder. Er hielt das Gerät in beiden Händen, sah sein verzerrtes Spiegelbild im dunklen Glas. Er verzog das Gesicht zu einem grotesken Grinsen, murmelte „Du Loser“ – und warf das Handy hinunter.
Dann trat er einen Schritt vor. Dann zurück. Wieder vor. Der Wind wurde stärker. Er hörte Stimmen. Jemand lachte in der Ferne. Lenny schloss die Augen. Er dachte an den toten Mann. An das Mädchen, das ihn nicht verteidigt hatte. Und an den Erpresser, den er beinahe erschlagen hätte. An all die Versuche, das Richtige zu tun – und alles nur schlimmer gemacht zu haben. Vielleicht war er nicht gefährlich. Aber was, wenn doch? Was, wenn es wieder passierte – nicht aus Absicht, sondern aus Angst, aus Reflex? Was, wenn das Böse nicht in der Tat lag, sondern in ihm selbst – tief verankert, wie ein rostiger Haken? Der Wind peitschte ihm ins Gesicht. Er trat an den Rand.
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