Ist die Friedensbewegung am Ende?

Interview mit Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) Sucy Pretsch

+++ Interview mit Jan Gildemeister von der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden +++ Warum die lange Phase des Friedens in Europa ihr Ende gefunden hat +++

Die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) ist ein Zusammenschluss von 31 Institutionen, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Arbeitsprogrammen im In- und Ausland Friedensarbeit leisten. Die AGDF wurde 1968 gegründet und hat ihren Sitz in Bonn.

Ihre Mitglieder bieten z.B. internationale Freiwilligendienste an. Sie bilden aus in ziviler Konfliktbearbeitung und führen regionale Projekte zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Kräfte durch. Ein zentrales Ziel der AGDF ist es, das zivilgesellschaftliche Engagement für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt zu stärken.

Die AGDF ist friedenspolitisch engagiert und vernetzt. Sie gehört zu den Trägern der »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!«.

Die enge Zusammenarbeit mit Kirchen und kirchlichen Einrichtungen ist für die AGDF von großer Bedeutung, um die gemeinsame Zielsetzung in der Friedensarbeit zu vertiefen. Doch haben die Friedensdienste gegenüber den Kirchen eigene Funktionen und Aufgabenfelder. 

»Kurzfristig sind die Chancen [auf Frieden in der Ukraine] schlecht«

Angesichts des bewaffneten Konflikts in der Ukraine stellt man sich die Frage, wie man auf den Weg des Friedens zurück finden kann. Wann wird dies möglich sein und vor allem wie? Was wurde aus »Nie wieder Krieg!« und der Friedensbewegung der letzten Jahrzehnte?

Ich habe darüber mit Jan Gildemeister gesprochen. Er ist Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden und hat mir einen Einblick in die aktuelle Friedensarbeit gewährt.

SUCY: Herr Gildemeister, wie sehen Sie die Chance, wieder den Weg des Friedens zu beschreiten?

GILDEMEISTER: Kurzfristig sind die Chancen schlecht: Der russische Präsident hat sich offenbar die Unterwerfung der Ukraine zum Ziel gesetzt, dafür muss er militärisch siegen. Er hat kein Interesse, als Verlierer da zu stehen.

Eine kleine Chance besteht darin, dass die Stimmung in Russland aufgrund des unerwartet langsamen Vormarsches russischer Truppen, der dabei sterbenden Soldaten und der Auswirkungen der Sanktionen so kippt, dass Putin sich auf ernsthafte Verhandlungen einlassen muss, um an der Macht zu bleiben. Ansonsten wird es lange dauern, ehe wieder Verhandlungen möglich sind.

Li. & re.: Jan Gildemeister, Geschäftsführer | Mitte: Dt. Ev. Kirchentag 2019, initiiert und mitgetragen von AGDF (Quelle: AGDF)

»Es gibt viel zu wenige Mittel für Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung.«

SUCY: Hat die Friedensbewegung der letzten Jahrzehnte versagt?

GILDEMEISTER: Versagt hat zunächst die Politik. Die Bilanz seit 1991 ist ernüchternd: Abkommen zur atomaren Abrüstung zwischen den USA und Russland wurden gekündigt, die NATO hat entgegen mündlicher Zusicherungen Mitgliedsstaaten bis an die russischen Grenzen aufgenommen, es gibt eine immense Aufrüstungsspirale.

Die UN sind geschwächt, die OSZE wurden nicht gestärkt, diplomatische Kanäle sind spätestens nach Annexion der Krim verstopft. Kritik an Menschenrechtsverletzungen wurden aufgrund wirtschaftlicher Interessen nur moderat vorgetragen.
Und es gibt viel zu wenige Mittel für Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung. 

Zugleich wurde in einem erheblichen Teil der Friedensbewegung die aggressive Politik der russischen Regierung nach innen und außen verharmlost und wurden die begründeten Ängste osteuropäischer Staaten und ihrer Bevölkerung nicht ausreichend ernst genommen. Eine offene Diskussion hierüber findet bis heute nicht statt.

»Es fehlt eine nüchterne Diskussion, was Deutschland für eine effektive Verteidigung […] leisten kann und soll«

SUCY: Wie ist die aktuelle Entwicklung aus der Sicht der Friedensfindung und -sicherung zu bewerten?

GILDEMEISTER: Sie ist sehr problematisch:
Zum einen ist die Stimmung in Medien, Politik und der Bevölkerung gekippt. Diejenigen, die einseitig oder vorrangig auf militärische Stärke und Waffen setzen, haben die Oberhand gewonnen. Die langfristigen Ansätze für mehr Gerechtigkeit und Frieden in der Welt stehen unter Legitimationsdruck.
Die Stimmung ist so, dass eine nüchterne Analyse und differenzierte Argumente es noch schwerer haben als zuvor.

Zum zweiten stehen wir vor der Frage, wie ein friedlicher Staat gegen eine Intervention widerstehen kann. Was ist gewaltfrei möglich? Dürfen Verteidigungswaffen als Nothilfe geliefert werden?

Humanitäre Hilfe und die Aufnahme Geflüchteter sind in diesem Fall weitgehend unstrittig.
Es fehlt eine nüchterne Diskussion, was Deutschland für eine effektive Verteidigung – auch von Bündnisstaaten – eigentlich leisten kann und soll und was es dafür benötigt. Was sind die sicherheitspolitischen Ziele?

SUCY: Mit der »Aktion Aufschrei« hat die AGDF am 17.02.2022 zusammen mit weiteren Initiativen die Bundesregierung dazu aufgerufen, ihren Kurs in der Ukraine-Krise zu halten und keine Rüstungsgüter in den Konflikt zu liefern. Dies hat sich nun radikal verändert – wie bewerten Sie diese Entwicklung?

GILDEMEISTER: Rüstungsgüter gehören nicht in Krisenregionen, da sie Konflikte weiter eskalieren. Generell sollten sie bestenfalls dann exportiert werden, wenn dies im außenpolitischen Interesse Deutschlands liegt. 
Die aktuelle Frage nach Waffenlieferungen an Staaten als Nothilfe sollte davon abgetrennt diskutiert werden.

SUCY: Wie sehen Sie aus Sicht der Friedensarbeit die Pläne der Bundesregierung, massiv in die Bundeswehr zu investieren?

GILDEMEISTER: Aus vielen Gründen lehnen wir dies ab:
Zum einen brauchen wir die Mittel für anderes dringend: sozial abgefederte ökologische Transformation weltweit, Ausbau der Mittel ziviler Konfliktbearbeitung etc.

Zum zweiten steht die in der Koalitionsvereinbarung angekündigte sicherheitspolitische Diskussion aus: Brauchen wir die Bundeswehr? Wenn ja, wofür? Was bedeutet dies für die Ausstattung? Eine reine Verteidigung ist etwas anderes als eine Armee, die sich weltweit an Interventionen beteiligt. Die Beteiligung an Blauhelmeinsätzen der UN ist wiederum etwas anderes.

Zum dritten habe ich den Eindruck, als ob mit der Ankündigung gleich auch die Anschaffung neuer Atombomber, bewaffnete Drohnen und andere sehr umstrittene Rüstungsvorhaben mit durch gewunken werden sollen. 

Zum vierten bedeutet mehr Geld ohne ein neues Beschaffungsmanagement eine Subventionierung von Rüstungsunternehmen, deren Aktienkurse bereits gestiegen sind.

»Veränderungen müssen von unten, nicht von außen kommen.«

SUCY: Der Bertelsmann Transformationsindex (BTI) weist inzwischen mehr autokratische als demokratische Staaten aus. Sind Sie der Meinung, dass dies dazu führen wird, dass sich das »Recht des Stärkeren« zuungunsten eines friedlichen Zusammenlebens durchsetzen wird?

GILDEMEISTER: Dies erleben wir seit etlichen Jahren. Die Gründe hierfür sind vielfältig: die Zunahme von Krisen in Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems, die Unglaubwürdigkeit der Politik demokratischer Staaten bis hin zu militärischen Interventionen u.v.a.m.

Die Frage ist, welche Stärke demokratische, für Gerechtigkeit, Frieden und Umweltschutz streitende zivilgesellschaftliche Bewegungen und Organisationen weltweit gewinnen können. Veränderungen müssen von unten, nicht von außen kommen. Aktuell sind sie in vielen Ländern massiv unter Druck, in einigen anderen haben sie auch Erfolge.

SUCY: Wird die lange Phase des Friedens in Europa mit dem jetzigen bewaffneten Konflikt in der Ukraine ihr Ende finden?

GILDEMEISTER: Nun ja, der letzte Krieg war auf dem Balkan, wo es bis heute brodelt.
Ansonsten hat die Phase ihr Ende gefunden und wir können nur hoffen, dass sich der Krieg nicht ausweitet, sondern schnell durch Verhandlungen beendet werden kann.

DANKE!

Zur Website der AGDF: www.friedensdienst.de
Informationen zur Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!«
Aktuelles aus der Friedensarbeit



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