Bitte nicht stören – Wie ignorant ist die Gesellschaft eigentlich?

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[Aus der Reihe »Mieses Klima« Teil 4]

+++ Interview mit Birgit Stratmann vom Netzwerk Ethik heute +++ Über Attacken auf die »Letzte Generation« und Möglichkeiten, die Menschen zu erreichen +++

Protestformen in Deutschland

In Deutschland sind Demonstrationen eine gängige Form des Widerstands. Sie haben lange Tradition und über die Jahre ist einiges an Errungenschaften durch Demonstrant:innen erzielt worden. Doch auch in Deutschland verändern sich die Protestformen stetig.

Ein Blick zurück zeigt, wie wichtig verschiedene Aktionen in der Vergangenheit waren, um die aktuellen Errungenschaften zu erkämpfen und weiterzuentwickeln. Unter anderem haben Demonstrationen mit dem Ziel, für mehr Gleichberechtigung von Minderheitengruppierungen einzutreten, eine tragende Rolle gespielt. Bei dieser Art des Protests geht es darum, auf Missstände hinzuweisen und Lösungsvorschläge zu formulieren. Inzwischen hat sich aber auch die Bedeutung solcher Aktionen erweitert. Sie können nicht nur Gerechtigkeit herbeiführen, sondern auch soziale Veränderungen anstoßen und für positive Entwicklungsprozesse sorgen.

Zu den weiteren typischen Protestformen in Deutschland gehören inzwischen natürlich auch Online-Petitionen oder Social Media-Kampagnen. Diese Art hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen und ist ebenso effektiv wie traditionelle Protestformen. Auch Formate wie Flashmobs, Kunstprojekte oder Guerilla Gardening haben sich bewährt, um Menschen zusammenzubringen und so für Veränderungsprozesse zu sorgen.

Allerdings bekommt man ab und zu den Eindruck, dass sich die Menschen nur veränderungsbereit zeigen, solange sie sich selbst nicht all zu sehr verändern müssen, »Klimaschutz light« sozusagen. Der Tagesspiegel schreibt über eine aktuelle Erhebung*:

»Zwei von drei Deutschen sind einer Umfrage zufolge zum Verzicht zugunsten des Klimaschutzes bereit. Während 19 Prozent der Befragten bei der Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der „Welt am Sonntag“ angaben, generell nicht bereit zu sein, für die Erreichung der Klimaschutzziele auf etwas zu verzichten, wollten sich 13 Prozent nicht zu der Fragestellung äußern.« Also ein klares JEIN zum Klimaschutz bzw. zu der Bereitschaft, persönliche Einschränkungen in Kauf zu nehmen.

»Letzte Generation«: Kritik und Unterstützung

Seit geraumer Zeit taucht die »Letzte Generation« auf unseren Straßen auf – im wahrsten Sinne des Wortes. Zuletzt haben sich die Aktivisten vorgenommen, Berlin lahmzulegen. Nachdem die Hauptstadt tagelang blockiert wurde, stößt die Gruppierung nicht nur auf der Straße, sondern auch in der politischen Landschaft auf Widerstand. Sowohl in der Regierung als auch in der Opposition wird Kritik an den Aktionen der Aktivistengruppe laut, wobei die Grünen ebenfalls eindeutig Stellung beziehen.

Interview mit Birgit Stratmann vom Netzwerk Ethik heute

Kritiker behaupten, dass die »Letzte Generation« zu weit gehe und Unruhe stifte. Viele Menschen kritisieren die Proteste als unangebracht und radikal. Es ist aber wichtig zu erkennen, dass es nicht ausschließlich Kritik an der letzten Generation hagelt. Es gibt sehr wohl Unterstützung – wenn auch leise.

»Die verbalen Attacken auf die Aktivisten der „Letzten Generation“ sind unverhältnismäßig«

Im November 2022 spricht Birgit Stratmann über die »Letzte Generation« und veröffentlicht ihren Standpunkt auf www.ethik-heute.org. Das Netzwerk Ethik heute fördert ein ethisches Bewusstsein und ein am Gemeinwohl orientiertes Handeln. Birgit Stratmann ist Mitbegründerin, verantwortlich für die Redaktion des Online-Magazins und die Programmplanung. Das denkt Stratmann über die Kritik an »Letzte Generation«:

»Die verbalen Attacken auf die Aktivisten der »Letzten Generation« sind unverhältnismäßig und zeigen, dass viele den Ernst der Lage immer noch leugnen. Sie wollen nicht gestört werden, denkt Birgit Stratmann. Trotzdem hält sie die Proteste nicht für geeignet, Maßnahmen für einen wirksamen Klimaschutz voranzubringen.«

Ich wollte von ihr wissen, wie sie heute, rund ein halbes Jahr später darüber denkt. Sie hat mir geantwortet – und das mit eindrucksvollen Worten, die jedem und jeder von uns zu denken geben sollten.

SUCY: Die Aktivisten von »Letzte Generation« lassen sich nicht beirren und treten mit ihren zum Teil heftig kritisierten Aktionen an die Öffentlichkeit. Erneuern Sie in diesem Zusammenhang Ihr Verständnis für das Anliegen und gleichzeitig den Wunsch, das extreme Verhalten zu überdenken?

»Wenn man sich Politik und Gesellschaft anschaut, so ist da immer noch viel Leugnen und Verharmlosen«


BIRGIT STRATMANN: Ich verstehe die Aktivisten sehr gut. Wenn man sich Politik und Gesellschaft anschaut, so ist da immer noch viel Leugnen und Verharmlosen, nach dem Motto „Es wird schon irgendwie gut gehen“ oder „Mit ein paar technischen Innovationen schaffen wir das“. Ich glaube, dass das Ausmaß der Klimakrise und wie sehr sie mit unserem Lebensstil verknüpft ist, vielen nicht bewusst ist. Insofern verstehe ich die Ungeduld der »Letzten Generation«. Sie wollen die Menschen wachrütteln.

Ich halte aber die Maßnahmen nicht für geeignet. Nicht, weil ich sie „extrem“ finde, wie es in Ihrer Frage anklingt. Extrem finde ich, nichts zu tun angesichts der Klimakrise. Aber die Aktionen dienen nicht dem Ziel, mehr Klimaschutz zu erreichen. Beim Festkleben zum Beispiel wird vor allem über die »Letzte Generation« gesprochen und nicht über das Klima. Es bringt nichts, einzelne Autofahrer zu attackieren -– das macht sie nur noch trotziger –, sondern die Verkehrspolitik muss endlich klimagerecht werden: weg vom Autoverkehr. Hier muss man politisch Druck machen, das kann nicht individuell gelöst werden. Und das ist ein steiniger politischer Weg der politischen Auseinandersetzung.

»Sie wollen die Menschen wachrütteln«

SUCY: Was halten Sie davon, wenn Politiker wie der Tübinger Bürgermeister Palmer und andere eine Einigung mit den Aktivisten erreichen und dem Klima in der Kommune mehr Aufmerksamkeit geben?

BIRGIT STRATMANN: Alle Maßnahmen auf allen Ebenen sind wichtig: in den Kommunen, im Leben der einzelnen Menschen, z.B. weniger Fleisch essen, und in der Politik. Es ist die Summe vieler kleiner und großer Handlungen, die wir für diese gewaltige Aufgabe brauchen. Der Vorteil von der kommunalen Ebene ist, dass man mehr Menschen mitnehmen kann. So entsteht das Gefühl der Selbstwirksamkeit: Wir können etwas tun.

SUCY: Welchen Weg würden Sie vorschlagen, um die Menschen zu einem Umdenken zu bewegen bzw. um zu erreichen, dass der Druck auf die Politik, gesteckte Ziele zu erfüllen, von einer vereinten Gesellschaft ausgeht?

BIRGIT STRATMANN: Wir betrachten die Klimakrise zu distanziert. Es wäre wichtig, dass wir den Klimaschutz zu unserer persönlichen Sache machen – so wie es viele junge Leute tun. Ich glaube, sie empfinden es so, als würde ihr eigenes Haus in Flammen stehen. Und das stimmt ja, die Erde ist unser Zuhause. Da können wir viel von ihnen lernen. Wenn wir die Gefühle der Angst und Trauer an uns heranlassen, sind wir auch eher bereit, etwas zu tun und den Klimaschutz in persönliche Entscheidungen einfließen zu lassen.

»Wir betrachten die Klimakrise zu distanziert«

Und natürlich brauchen wir den Druck der Zivilgesellschaft auf die Politik, zum Beispiel mit großen Demonstrationen, politischer Einflussnahme usw.. Denn die Parteien betreiben oft eine Politik, die sich an Partikularinteressen orientiert und nicht am Gemeinwohl und schon gar nicht an den Bedrüfnissen zukünftiger Generationen. Eine solche Politik müssen wir aber einfordern. Es geht um alles. Und wir können jetzt noch das Schlimmste verhindern, wenn wir gemeinsam auf die Straße gehen. 

SUCY: Vielen Dank.

Ethik heute ist ein Online-Magazin, das jede Woche neue Artikel rund um Ethik und achtsames Leben veröffentlicht und Online-Abende veranstaltet: ethik-heute.org

*Quelle „Tagesspiegel“: Zwischen dem 14. und 17. April befragte YouGov in Online-Interviews über 2.000 Menschen in Deutschland. Die Ergebnisse sind dem Zeitungsbericht zufolge repräsentativ für die Bevölkerung ab 18 Jahren.

Video auf dem YouTube-Kanal vom Netzwerk Ethik heute

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