Ein Rätsel in Saarbrücken

[Eine Kurzgeschichte für Jugendliche]

In Saarbrücken leben zu müssen wünscht man nicht mal seinem schlimmsten Feind, dachte Emma und blinzelte durch die Scheibe. Dann trat sie durch die quietschende Tür des Schulgebäudes in den Innenhof. Sie schaute in den Himmel: Da oben ist es sicher nicht so trostlos wie hier unten in diesem Kaff. Emma seufzte und blickte sich um. Als erste war sie schon während des Klingelns der Schulglocke aus dem Klassenzimmer geeilt. Die anderen betraten nach und nach den Hof, die Mittagsschule war endlich vorbei und jeder wollte nur hier weg. Emma schaute auf ihre Uhr, sie hatte noch über zwei Stunden Zeit, bis ihre Mutter nach Hause kam. Also gab es keinen Anlass zur Eile. Während sie das Gelände der Gesamtschule „Bellevue“ verlies und die angrenzenden Straßen überquerte, tastete sie mit ihrer Zunge gelangweilt die Hohlräume ihrer Zahnspange ab. Sie entdeckte etwas Gummiartiges, das zwischen dem oberen Eckzahn und Schneidezahn festsaß. 

Emma machte einen Sprung über eine niedrige Mauer und war im Park angekommen. Mit zwei Fingern zog sie am gummiartigen Essensrest. Das muss ein Überbleibsel der Hähnchennuggets vom heutigen Mittagessen sein, dachte sie und zupfte weiter. Es löste sich schließlich und hing nass und rosa an ihrem Zeigefinger. Ihre Mutter fiel ihr wieder ein, die immer mahnte: Nicht mit Essen spielen! Emma rollte mit den Augen und steckte sich den Rest des Hähnchennuggets in den Mund, schluckte und rülpste. 16 Jahre alt sein, in Saarbrücken leben, eine Zahnspange tragen und auf die hässlichste Schule der Stadt gehen zu müssen, waren nun wirklich nicht die besten Voraussetzungen für ein erfülltes Leben. In Emmas Fall kam noch eine alleinerziehende Mutter hinzu, die zu Hysterie neigte und eine ausgeprägte Langeweile, die sich tagtäglich durch Emmas Leben zog. Ich muss unbedingt mal nach Selbstmordmöglichkeiten googeln, überlegte sie. Sie verwarf den Gedanken aber sofort wieder, da sie vermutlich noch viele Jahre vor sich hatte, in denen sich das Blatt zum Guten wenden konnte. 

Emma schlenderte unter den Kastanienbäumen hindurch und bemerkte nicht, wie viel Mühe sich der Herbst gab, den Menschen zu gefallen. Nach einem heißen Sommer war es immer noch ungewöhnlich warm und die Bäume waren getaucht in zahlreiche rote und grüne Töne. Die Kastanien, die sie mit ihrer Mutter als Kind zu Igeln umfunktioniert und im Garten ausgesetzt hatte, nervten heute nur noch durch die dünne Schuhsohle hindurch. Bei jedem Schritt trat sie auf eine dieser kleinen nichtsnutzigen Dinger. 

Emma setzte sich auf ihre Lieblingsparkbank, um in ihrer Schultasche nach etwas Essbarem zu suchen. Das Mittagessen war lange vorbei und der letzte Rest der Nuggets aus der Zahnspange entfernt, sodass sie nun für Nachschub sorgen wollte. Ein Hefter, der Matheblock, ein Taschenrechner, das Englischbuch und drei Kugelschreiber war alles, was sie in der Tasche finden konnte. Emma legte die Dinge sorgfältig nebeneinander auf die Bank und schaute sich die Ausbeute eine Weile lang an: Ich kann nur hoffen, dass es in meinem Leben eines Tages interessantere Dinge in meiner Tasche geben wird

Sie lies ihren Blick umher schweifen: Ein Hund rannte auf einer Wiese beharrlich im Kreis und das dazu gehörende Herrchen freute sich anscheinend darüber, denn der Mann jauchzte fröhlich. Welchen Sinn diese Art der Hundeerziehung haben sollte, wusste Emma nicht. Sie dachte noch etwa zwei Minuten darüber nach, kam aber auch dann zu keinem einleuchtenden Ergebnis. Nicht weit entfernt von dem Hund-Mensch-Gespann entdeckte Emma eine ältere Dame, die es sich gerade auf einer der verwitterten Holzbänke gemütlich gemacht hatte und umständlich zwei Äpfel aus einer ALDI-Tüte hervor kramte. Wo ist denn Dein Ehemann? Schon tot? Oder hat er nur keine Lust, Dich bei Deinem langweiligen Spaziergang zu begleiten? Vielleicht war Dein Mann jetzt gerade in der Kletterhalle und hatte einen riesen Spaß mit jungen sportlichen Mädels. Oder er war eben auf dem Friedhof. Egal was zutraf: Mit Sicherheit hat er mehr Vergnügen als Du, Du schimmelige alte Schachtel! Emma grinste verächtlich. Dann schämte sie sich für ihre Gedanken und wandte den Blick schnell ab. 

Er fiel auf den Mülleimer, der neben der Bank auf der sie saß, in den Boden betoniert war. Döner-Papier mit Zwiebelresten, klebrige Bananenschalen und eine vertrocknete rote Rose lugten heraus. Auf dem Boden lagen weitere Müllreste – und ein Stück sorgsam zusammen gefaltetes weißes Papier, das Emmas Interesse auf sich zog. 

Sie beugte sich hinunter, um es besser begutachten zu können: Das Papier musste erst vor kurzem hierher geraten sein, denn es war weder verschmutzt noch stark zerknittert. Kurz dachte sie über die Möglichkeit nach, dass es sich hierbei um die Freisetzung eines tödlichen Virus handeln könnte und sie dann als der erste Mensch damit infiziert werden würde. Erst würde Saarbrücken aussterben, dann der Rest der Welt. 

Sie verwarf die lebensbedrohliche Idee, denn ihre Neugier ergriff allmählich Besitz von ihren Gedanken. 

Emma fasste langsam und vorsichtig mit spitzen Fingern das Papier – der mögliche Todesvirus machte ihr noch etwas Angst – und nahm es auf. Sie zögerte kurz damit, den Fetzen zu entfalten, aber da meldete sich die Lust zur hemmungslosen Schnüffelei, die ihre Mutter stets bemängelte. Den Atem anhaltend entblätterte sie die Falzung und las aufmerksam was dort in schwarzen Druckbuchstaben stand. Sie riss ungläubig die Augen auf, formte den Mund zu einem langgezogenen Oooooh! Schließlich begann ihr Herz heftig zu schlagen. Sie wurde mit jedem geschriebenen Wort und jeder Minute, die verstrich, nervöser und begann, auf der Bank hin und her zu rutschen. Auf dem Zettel, der nun ausgebreitet auf ihrem Schoß lag, stand folgender kryptischer Text:

An den klugen Menschen, der dies findet, 

dies ist eine Rätselaufgabe.

Löse den Code, finde am beschriebenen Ort die nächste Aufgabe und erhalte bei deren Lösung das schönste Geschenk Deines Lebens.

Emma schaute sich nervös um und begann von vorne, den Text zu lesen. Unter der mysteriösen Einleitung stand etwas, das noch viel rätselhafter war. Vor allem aber war es unverständlich:

NRPP CXP URWHQ WXUP GHU XQWHULUGLVFKHQ EXUJDQODJH.

Auch nach dem siebten Durchlesen wurde Emma nicht schlau aus der Nachricht. Wer hatte das geschrieben und an wen? Und wozu? Und welcher Ort war gemeint und vor allem: Was zum Teufel war „das schönste Geschenk des Lebens“? Da der Zettel nun mal in ihre Hände geraten war, proklamierte sie ihn für sich und suchte in der Tasche nach ihrem Handy. Bei Google tippte sie schnell die Buchstaben des angeblichen Codes ein. Vielleicht war jemand so phantasielos und hatte eine bestehende kodierte Nachricht aus dem Internet übernommen. Sie bekam keine Ergebnisse angezeigt. 

Emma schnaufte und blickte in die Wolken. Obwohl sie keine Erklärung erhalten hatte, war sie erleichtert, denn nun nahm sie sich vor, dieses Rätsel zu lösen, um an „das schönste Geschenk des Lebens“ zu kommen. Sie räumte eilig ihre Sachen zusammen, als ihr Telefon klingelte: ihre Mutter rief an. Unwillig ging sie ran und raunzte ein unfreundliches Ja! in das Mikro. Ich habe jetzt Feierabend und bin in zehn Minuten zuhause. Hast Du Hunger Spatz? Emma war genervt von diesen kindlichen Namen, die ihre Mutter ihr ständig gab: Spatz, Maus, Schnuffi. Was sollte das? Sie war doch kein Baby mehr! Emma verabredete sich schweren Herzens zum Essen auch wenn das hieß, dass sie des Rätsels Lösung auf später verschieben musste. Sie wollte jetzt keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken, da ihre Mutter unglaublich viele dumme Fragen und belehrende Anekdoten auf Lager hatte, die mehr nervten und länger dauerten, als ein einfaches Abendbrot. 

Sie packte ihre Sachen in die Schultasche, schob diese eilig unter ihren Arm und wollte gerade gehen als sie eine wohlbekannte Stimme überraschte: Hey, was machst Du hier? Emma schaute erschrocken hoch, sie fühlte sich ertappt. Sie fing sich aber gleich wieder und antwortete Jonathan, der in ihrer Klasse in der Reihe hinter ihr saß und nun vor ihr stand, die Hände in die Hüften gestemmt: Nix, was geht’s Dich an? Jonathan schaute sie überrascht an, mit so einer unfreundlichen Antwort hatte er offenbar nicht gerechnet. Emma taten ihre Worte etwas leid, denn Jonathan war eigentlich einer der netteren Jungs aus ihrer Klasse, so wiegelte sich gleich wieder ab: Ich chill’ nur, muss auch gleich los zum Abendessen. 

Der hübsche Junge mit den schulterlangen dunklen Haaren und den grünen Augen lächelte, als er auf den Zettel in Emmas Hand zeigte: Hast Du da ein Geheimnis versteckt? Sie verbarg das Blatt Papier mit dem Rätsel hinter ihrem Rücken und wunderte sich, warum Jonathan auf einmal so viele Fragen stellte. In diesem Schuljahr, das immerhin schon drei Monate alt war, hatten sie bisher nicht mehr als drei oder vier Worte gewechselt. Und diese waren dann auch ziemlich banal wie „Hallo“ und „Ciao“. Lass doch mal sehen! Er ließ nicht locker. Was soll das? Was willst Du? Emma wurde allmählich ungeduldig. Auf der einen Seite wollte sie hier weg, schnell zu Abend essen und sich dann in ihrem Zimmer in aller Ruhe um den Code kümmern. Andererseits hatte sie auch das Bedürfnis, dieses Abenteuer mit jemandem zu teilen, zumal Jonathan ein kluger Bursche war und bestimmt gute Ideen zur Lösung beitragen konnte. Ihr würde später sicher etwas einfallen wie sie ihn wieder los wurde. 

Also atmete Emma einmal tief durch, hielt das Papier nach oben und sagte: Ich habe hier wirklich ein Geheimnis. Wenn Du mit mir ein mysteriöses Rätsel lösen möchtest, sei um 20 Uhr wieder hier an der Bank. Sie versuchte, so offiziell und geheimnisvoll wie möglich auszusehen. Dem Anschein nach zeigte dies Wirkung, denn Jonathan riss die Faust nach oben, drehte sich einmal um sich selbst und johlte. Jetzt beruhig’ Dich mal wieder, wir sehen uns nachher! Emma schnappte ihre Sachen und ging ohne einen weiteren Blick auf den Jungen im Eilschritt Richtung Bushaltestelle damit sie pünktlich bei ihrer Mutter sein konnte. Er schaute ihr grinsend nach. Bis später, liebe Emma! hauchte er ihr hinterher. Da war sie aber schon auf der anderen Straßenseite, um dem einfahrenden Bus entgegen zu rennen.

Das Raten beginnt

Es war schon fast dunkel als Emma zur Bank zurückkam. Bist Du die ganze Zeit hier gewesen? fragte sie ungläubig als sie Jonathan dort sitzen sah. Dieser schaute zu ihr auf und schüttelte den Kopf: Ich bin auch auf der Bank gegenüber gesessen. Die Jugendlichen schauten sich an. Beide wussten nicht genau, was sie von einander halten sollen. Eigenartig kam ihnen nicht nur dieses geheime Treffen im Park vor sondern auch das Benehmen des jeweils anderen. Jetzt zeig’ mal was da steht und ob sich das Warten für mich gelohnt hat, beendete Jonathan die Stille, streckte die offene Hand aus und wartete auf die Aushändigung des Blatt Papiers, von dem Emma augenscheinlich ziemlich fasziniert war. Sie setzte sich neben ihn und gab ihm den Zettel. Er las aufmerksam, während Emma laut mitmurmelte, was da stand. Dann sah er sie an: Kennst Du Dich aus mit Codes? Seine neue Komplizin schüttelte den Kopf und zog ihr Handy aus der Hosentasche: Wozu gibt’s das Internet? Beide beugten sich erwartungsvoll über das Display, während Emma die Worte „code entschlüsselung“ in das Suchfeld der Suchmaschine tippte: ungefähr 155.000 Ergebnisse wurden angezeigt. Die zwei seufzten laut, das klang nach viel Arbeit. Lass uns zu mir gehen, sagte Jonathan, wir brauchen Licht, Papier und Stifte. So kommen wir nicht weiter.

Jonathan riss die Tür seines Zimmers auf und warf seinen Rucksack auf das Bett. Emma trat ein und musterte die Tapete: Bist Du dafür nicht schon etwas zu alt? Sie zeigte auf „Bob, den Baumeister“, der bunt und in allen möglichen Formen auf die Wand gedruckt war. Ich hatte noch keine Zeit, das Zimmer zu renovieren. Der Junge räumte hastig den Schreibtisch leer, indem er die Schulbücher, die dort lagen, in die Ecke neben dem Bett warf. Nun haben wir Platz, um das Rätsel zu lösen. Emma setzte sich zu ihm und gemeinsam schauten sie in den Monitor des Computers, der auf dem Tisch stand. Aber auch hier waren sie nach einer halben Stunde des Suchens nicht zufrieden mit den Ergebnissen, die aufgelistet wurden: Es ist alles so unübersichtlich, wo sollen wir nur anfangen? Emma überkamen Zweifel, ob ihnen die Entschlüsselung überhaupt gelingen würde. Da stand Jonathan abrupt auf und ging mit einem lauten Ich hab ’ne Idee! aus dem Raum. Emma starrte gedankenverloren auf die offene Tür und wartete. Ein paar Minuten später erschien er wieder und trug einen Stapel Bücher und einige Comichefte auf seinem Arm. Mein Vater ist Fan von Codierungen und hat dazu viele Unterlagen! Er legte die Bücher vor Emma auf den Tisch. Du schaust hier nach und ich lese die alten Agentencomics, die sind auch voller Codes. Emma runzelte ungläubig die Stirn: Wie sollten Bücher hilfreicher sein als das Internet? Aber da sie im Netz bisher nur ein wildes und unübersichtliches Sammelsurium an Informationen, Texten und Verschwörungstheorien gefunden hatten, beschloss sie den Büchern eine Chance zu geben. Sie rückte mit ihrem Stuhl näher an den Tisch und breitete die Wälzer vor sich aus. Jonathan lächelte und legte sich mit den Comics aufs Bett. Eine Weile war es still im Zimmer. Emma blätterte hin und her zwischen Buchstaben- und Zahlencodes, Codierungen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, Binär- und Zeichencodes. So langsam wurde ihr klar, nach was sie suchen musste. Da der kryptische Text auf dem Papier ausschließlich aus Buchstaben bestand, brauchte sie eine entsprechende Entschlüsselung. Sie entschied, sich von einfach zu kompliziert vorzuarbeiten und hoffte, dass die richtige Dechiffrierung dabei war. Sie nahm sich das Kapitel „Einfache Codierungen“ vor und begann zu lesen. Nach einiger Zeit stieß sie auf die sogenannte „Caesar Chiffre“: Cäsar, Du alter römischer Zwiebelhirsch, wegen Dir hatte ich in der Geschichtsarbeit eine vier! Sie kicherte und entschied, die Entschlüsselung damit zu versuchen und las: Ausgangspunkt der „Caesar Chiffre“ ist unser Alphabet. Dabei wird jeder Buchstabe durch einen neuen Buchstaben ersetzt, nämlich der Buchstabe, der um drei Stellen versetzt ist. Aus einem „A“ wird durch eine Verschiebung um drei Zeichen also der Buchstabe „D“. Praktischerweise war in dem Buch eine Schablone abgebildet, mit deren Hilfe sie nun die Decodierung probieren konnte. Sie schnaufte und pfiff durch die Lippen, Jonathan schaute kurz hoch und vertiefte sich dann wieder in seine Comics. Emmas Herz schlug vor Aufregung bis zum Hals, sie begann zu schwitzen. Sie schob die Matrize hin und her, begann zu schreiben, wieder durchzustreichen und schrieb erneut. Mit der Zeit veränderte sich die kryptische Nachricht: Aus

NRPP CXP URWHQ WXUP GHU XQWHULUGLVFKHQ EXUJDQODJH.

wurde

KOMM ZUM ROTEN TURM DER UNTERIRDISCHEN BURGANLAGE.

Emma stieß einen spitzen Schrei aus: Ich hab’s! Jonathan! Ich hab’ die Nachricht entschlüsselt! Es war die Caesar Chiffre! Jonathan erhob sich eilig vom Bett, ließ die Comichefte unachtsam fallen und war mit einem großen Schritt bei Emma. Er sah sich die Notizen und Aufschriebe an und hob die Augenbrauen: Du bist klüger als ich dachte! Emma schlug ihm leicht in den Magen. Sie lachten beide und hüpften im Kreis bis Emmas Blick auf ihre Uhr am Handgelenk fiel: Schon elf Uhr? Ich muss los, meine Mutter bekommt sonst eine Panikattacke. Gehen wir morgen nach der Schule zum Roten Turm? Jonathan nickte und schon war Emma aus der Tür. Er betrachtete das Chaos, das die beiden in seinem Zimmer hinterlassen hatten und seufzte: Was für ein schöner Abend!

Das Abenteuer geht weiter

Der nächste Tag war ein Donnerstag und begann mit Geschichte – eigentlich der perfekte Einstieg in ein Abenteuer. Nur dass nicht Cäsar das Thema war, sondern die Ägypter. Emma konnte sich kaum konzentrieren und auch Jonathan, der immer wieder versteckte Blicke in Richtung seiner Komplizin warf, hatte alle Mühe, den Geschichten des Pharao Ramses zu lauschen. Noch nie hatten die beiden dem Ende eines Schultages so aufgeregt entgegen gefiebert. Aber alles geht irgendwann zu Ende und im Schulhof trafen sich nachmittags zwei ziemlich aufgewühlte Sechzehnjährige, die sich kurz umarmten und sich dann auf den Weg machten zum Roten Turm. Vom Historischen Museum am Saarbrücker Schloss aus führt eine Treppe hinab in die Vergangenheit: 14 Meter unter der Erde gibt es dort eindrucksvolle Architekturzeugnisse vom 13. bis ins 18. Jahrhundert, unter anderem Teile einer mittelalterlichen Burg und eben der Rote Turm.

Als die beiden im Bus saßen sah Jonathan etwas verstohlen in Richtung Emma, die verträumt aus dem Fenster sah und an nichts dachte. Die Bäume und Häuser zogen wie im Zeitraffer an ihr vorbei, alles verschwamm ineinander und ergab insgesamt kein konkretes Bild mehr. 

Der Bus hielt an und Jonathan stupste Emma: Wir müssen hier raus, Du Schlafmütze! Hastig sprangen sie aus dem Bus auf die Straße und schauten sich um. Da geht’s lang! Zumindest war der Weg ausgeschildert und kostete sie nicht noch mehr wertvolle Zeit. Die Vorstellung, bald an „das schönste Geschenk des Lebens“ zu kommen, beflügelte die beiden. Kurz fragte sich Emma, wie sie Jonathan loswerden konnte, wenn sie erst einmal am Ziel waren. Sie schob den Gedanken schnell beiseite, noch brauchte sie ihn. Es war ein weiterer warmer Tag in diesem Herbst und während die beiden Teenager zu ihrem Ziel hasteten, bemerkten sie nicht, wie sich Schweißtropfen auf ihrer Stirn bildeten und schließlich über die Wangen tropften. Sie bemerkten nicht, wie sie über Steine stolperten und gemütlich gehende Touristen zur Seite stießen. Einige schimpften ihnen hinterher und riefen altbekannte Sprüche wie „Die Jugend von heute hat keinen Anstand mehr!“, aber das hörte weder Jonathan noch Emma. Sie zahlten Eintritt und eilten die Treppen hinunter in die spannende unterirdische Welt. Hier ist er, der Rote Turm, sagte Jonathan in einem ernsten Ton. Emma fragte unbeeindruckt: Wo soll hier ein Rätsel versteckt sein? Sie blickte sich um und begann zu suchen: Auf den Wegen, in Ecken und neben Mülleimern hielt sie Ausschau nach einem Blatt Papier. Sie nahm an, dass das zweite Rätsel in der gleichen Form wie das erste in Erscheinung treten würde. Jonathan rührte sich nicht: Er beobachtete seine Mitschülerin nur. Er hörte sie schnaufen und husten, hörte sie schimpfen und fluchen. Sie bemerkte seine Untätigkeit nicht und auch nicht sein breites Grinsen. Stattdessen entdeckte sie nach zehn Minuten angestrengter Suche eine mit Kreide geschriebene Nachricht an der nördlichen Seite des Roten Turms. Ihr Herz hüpfte. Jonathan! schrie sie aus voller Kehle. Ein älteres Touristen-Paar mit bunten Wanderrucksäcken auf dem Rücken, das sich gerade interessiert den Turm ansah, schaute erschrocken zu ihr rüber. Emma ignorierte sie und wartete ungeduldig, bis Jonathan neben sie getreten war. Sie lasen, was da in Großbuchstaben an der alten Steinwand stand:

„ES IST KEIN GOLD, DOCH ES MACHT REICH,
EIN HERZ AUS EISEN WIRD DAVON WEICH,
ES IST KEIN FEUER, ABER ES BRENNT,
SAG’ MIR, WIE MAN DAS NENNT!“
     

Soll das ein Rätsel sein? Emma blickte ungläubig auf die Wand, denn das konnte unmöglich das sein, worauf sie die ganze Nacht gewartet hatte. Das, weswegen sie nicht schlafen konnte. Das, um das seit zwei Tagen ihre Gedanken kreisten. Sie schaute Jonathan fragend an: Was denkst Du? Der Junge lächelte und sagte freundlich: Lass uns versuchen, die Aufgabe zu lösen, dann sehen wir weiter. Emma richtete ihren Blick wieder auf die Buchstaben und las sich den Satz noch einmal durch. Sie las ein zweites mal und auch ein drittes mal. Dann runzelte sie die Stirn und fragte laut: Eine Blume? Ein Haus? Sie merkte gleich, dass beides nicht richtig sein konnte und schaute sich um. Dann ging sie grübelnd ein paar Schritte. Jonathan schaute ihr nach, er lächelte immer noch. Immer weiter entfernte sich Emma, setzte sich auf einen Stein und stützte die Arme auf ihre Knie. So starrte sie eine Weile vor sich hin und schien die Aufgabe im Flüsterton immer und immer wieder zu wiederholen, sie schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können.

Die Liebe! rief Emma, es muss die Liebe sein! Mit schnellen Schritten kam sie zu Jonathan zurück, der sich nicht einen Zentimeter bewegt hatte. Ist es die Liebe? Sie schaute ihn erwartungsvoll an. Mit einem seltsam bedeutungsvollen Blick, den Emma nicht zu deuten wusste, sah ihr Jonathan beschwörend in die Augen. Dann hob er seine Hand, die zu einer lockeren Faust geformt war, und streckte sie ihr mit einer langsamen Bewegung entgegen. Sie folgte mit ihren Blicken diesem seltsamen Tun. Er öffnete die Hand und Emma sah einen silbernen Anhänger darin liegen, in Herzform: Das ist Dein Geschenk! Emma musste spontan lachen, das konnte doch nur ein Witz sein. Jonathan, was redest Du denn da? Was soll das? Sie nahm den Anhänger auf und erkannte, dass es ein Amulett war, das man öffnen konnte. Das tat sie und sah darin ein Bild von Jonathan. Ich bin Dein Geschenk! sagte er feierlich und lächelte über das ganze Gesicht. Offenbar war er sich seiner Sache sehr sicher. Emma verstand allmählich, was geschehen war. Alles war von Anfang an von Jonathan geplant gewesen: dass er sie im Park traf als sie den Zettel gefunden hatte und dass er so schnell die Bücher mit den Codes gefunden hatte, aus denen er vermutlich sogar selbst die Chiffrierung vorgenommen hatte. Jetzt konnte sie sich auch erklären, warum er ständig nur griente und sich kaum bei der Suche und dem Enträtseln eingebracht hatte. Eine gewaltige Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sie starrte ihn ungläubig, fast zornig an: Das alles, weil Du verliebt bist in mich? Hättest Du mir das nicht einfach sagen können? Es klang schnippischer, als gewollt. Augenblicklich verschwand Jonathans Lächeln aus dem Gesicht und wich einem trotzigen Ausdruck: Hattest Du keinen Spaß? Emma konnte nichts sagen. Fest stand, dass dies sicher nicht „das beste Geschenk ihres Lebens“ war, denn sie war nicht die Spur in Jonathan verliebt. Er interessierte sie nicht einmal besonders. Das einzige, worüber sie sich jetzt Gedanken machte war, wie sie dieser peinlichen Situation entfliehen konnte. Sie entschied sich für die schmerzhafte, aber deutliche Variante, ihre Empörung konnte sie dabei kaum verbergen: Ich gehe jetzt nach Hause. Danke für dieses interessante Vergnügen, aber aus uns wird nix. Emma drehte sich um und ging eiligen Schrittes den steinernen Weg zurück nach oben und in Richtung Bushaltestelle, in der Hoffnung er würde ihr nicht gleich folgen. Sie sollte Recht behalten, denn Jonathan blieb noch eine ganze Weile wie angewurzelt stehen und starrte ihr mit leerem Blick hinterher.    

Ein paar Tage später, die beiden ehemaligen Komplizen waren sich in der Schule weitgehend aus dem Weg gegangen, betrat Emma wie immer nach dem Unterricht den Innenhof der Gesamtschule „Bellevue“. Sie setzte sich auf die Treppe, die zum Haupteingang führte und trank einen Zitronentee. Am anderen Ende des Hofes standen ein paar verrostete Metallbänke, die vor langer Zeit einmal blau gewesen waren. Dort erkannte Emma ein Mädchen aus ihrer Parallelklasse, sie vermutete, es könnte Lisa sein. Lisa bückte sich gerade und hob ein Stück Papier vom Boden auf. Von links trat ein Junge an das Mädchen heran und die beiden begannen, miteinander zu sprechen. Verstehen konnte Emma nichts, aber sie sah, dass es Jonathan war, der dort mit Lisa sprach, die das Stück Papier in der Hand hielt – sofort begriff Emma, dass dies wohl ein erneuter Beginn einer Schatzsuche zu sein schien: Du scheinheiliger Romeo! Falls Du verliebt bist, dann nur in Dich selbst! Lisa und Jonathan verließen den Schulhof und gingen Hand in Hand in Richtung Park. Emma schaute ihren Mitschülern schmunzelnd hinterher und leerte ihren Zitronentee: Viel Vergnügen mit dem „schönsten Geschenk Deines Lebens“!

» Zur Kurzgeschichte “Spiel des Lebens”

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