Das Spiel des Lebens

Kurzgeschichte "Spiel des Lebens"

Es war das Spiel des Lebens, dieses erbärmlichen, traurigen und deprimierenden Lebens eines Verlierers. Ja, ich bin ein Versager, ein Nichtsnutz. Das bin ich schon immer gewesen. Als Kind hat es bereits angefangen: Ich wurde beim Sport immer als letztes in ein Team gewählt. Und beim Völkerball war ich immer der erste, der abgeschossen wurde.
Meine Mutter hat mich rausgeworfen, da war ich gerade mal 15 Jahre alt. Mit so einem Taugenichts und Dieb wolle sie keine Minute länger unter einem Dach leben, hatte sie mir damals zugerufen als ich nach Hause kam und meine Klamotten vor der Tür fand – achtlos in eine kleine Sporttasche geworfen. Später fand ich darin noch Asche aus ihrem Aschenbecher, als letzten herzlosen Gruß sozusagen. 

Das Leben auf der Straße war zwar genauso herzlos, aber immerhin schlug mich niemand mehr ohne Grund. Wenn ich jetzt Prügel bezog, dann nur, weil ich was geklaut hatte. Und gestohlen habe ich ständig: Geld, Alkohol, Drogen. Ich hatte den gebrochenen Nasenrücken und die zertrümmerte Kniescheibe also verdient. Seitdem humple ich durch die Gegend. Das ist aber nicht so schlimm, meistens lag ich ohnehin hinter dem Bahnhof auf der Straße. Ab und zu lag ich in einem kleinen Bett, wenn Streetworker Samuel mal wieder Mitleid mit mir hatte und mich ins Männerwohnheim mitnahm. Seit ich dort aber den Kaffee hatte mitgehen lassen kam das nicht mehr so häufig vor. Ich konnte Samuel verstehen: Wer will schon was mit so einem Waschlappen zu tun haben, der nichts auf die Kette kriegt? Ich widerte mich ja selbst schon an.  

Und dann sah ich das Plakat! 

Ich war mir sicher, dass dies die Chance sein würde – die einzige Chance, die ich vielleicht jemals im Leben bekommen würde. Für eine neue TV-Show wurden Kandidaten gesucht. Die ganze Stadt sprach über dieses Spektakel und dass es zwar gefährlich sei, aber dein Leben verändern könne. 
Ich redete mit Samuel darüber: Er lachte nur und fragte mich, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte. Es liefen schon Bürgerinitiativen, die darauf abzielten, dass die Show niemals produziert werden sollte. Andere gingen auf die Straße und demonstrierten dafür, dass alles wie geplant stattfinden konnte. Immerhin hatte jeder das Recht, selbst über sein Leben zu bestimmen. 

Mir war das alles egal, ich wollte teilnehmen. Ich rechnete mir gute Chancen aus, denn sie suchten solche Herumtreiber wie mich. Niemand sonst würde sich auf so einen waghalsigen Deal einlassen. Und ich sollte recht behalten.

Wir waren zehn Kandidaten. Alles Loser wie ich. Lebensmüde Trottel, die bereit waren, das größte Wagnis ihres heruntergekommenen Daseins einzugehen. Wir wollten es diesmal wirklich alle wissen, unser Glück herausfordern, wenigstens einmal mutig sein. Was konnten wir schon verlieren? 

Unser Leben.

Na und!? Es war doch sowieso keinen Pfifferling wert. Warum also nicht was riskieren? Die ganze Show war die reinste Kamikazeaktion – glatter Selbstmord. 

Nein, eigentlich war es Mord. 

Wir sollten alle mit jeweils zwei Meter Abstand nebeneinander in einer Reihe stehen. Acht Männer und zwei Frauen waren ausgewählt worden. Es gab weder neue Kleidung noch Make-up: Wir sollten genauso zerlumpt, dreckig und runtergekommen aussehen, wie wir das Studio betreten hatten. 
Ganz schamlos und liederlich wurde unsere Situation ausgenutzt. Anstößig war das, unmoralisch und herabwürdigend. Aber wir wollten es alle unbedingt und niemand schaffte es, uns das auszureden. Nicht unsere Streetworker, nicht die Bürgerinitiativen und auch nicht die Psychologen, die uns kurz vor Beginn der Live-Schalte pro forma befragten. 

Also standen wir da. Nebeneinander. Zitternd. Jeder mit einem Koffer in der linken Hand. 
Jedes Behältnis beinhaltete eine Million Euro in bar und wog zwei Komma zwei Kilogramm – genau das Gewicht, das zweitausend Fünfhundert-Euro-Scheine auf die Waage bringen. 

Neun von uns würden den Gewinn mit nach Hause nehmen. Einer würde sterben.    

Wie ich schon sagte: das Spiel des Lebens oder dein Todesurteil. 
Es war ganz einfach: Hinter jedem von uns armen Irren stand eine Person, die eine Waffe an unseren Hinterkopf hielt. Nach dem Ende eines rückwärts laufenden Countdowns sollten die Schützen abdrücken. Nur in einer der zehn Pistolen befand sich eine Kugel, die einem der zehn Kandidaten den Schädel zerfetzen würde. 

Ich schaute weder nach links noch nach rechts. Diese Idioten interessierten mich nicht. Ich hatte nur Augen für den gelb blinkenden Countdown. Er stand noch auf 10:00 Minuten und sollte in wenigen Sekunden starten. 
Der Moderator hatte eben seine Einleitung begonnen. Vor uns stand ein großer schlanker Mann, in feinem Zwirn gekleidet und glänzend herausgeputzt. Ich glaube, er hatte sogar Goldpuder im Gesicht. Natürlich. Er sollte im Gegensatz zu uns glitzern. Und das tat er: Er glänzte mit wohl geformten Worten, Goldkettchen am Handgelenk und gewienerten Schuhen.    

Jetzt traten die Schützen aus dem Dunkel heraus und stellten sich hinter uns. Ich konnte den feuchten Atem der Person hinter mir spüren. Ich schloss kurz die Augen. Da dies jedoch strengstens untersagt war, öffnete ich sie sofort wieder. Ich wollte nicht riskieren, disqualifiziert zu werden. 

Die Waffe wurde fest gegen meinen Hinterkopf gedrückt. Das Metall fühlte sich kalt an. 
Man hatte uns gesagt, dass es sich um eine Walther PPQ mit einem vorgespannten, weichgängigen Abzug handelte. Lauflänge 102 Millimeter, nur 695 Gramm schwer. In einer der 180 x 135 x 34 Millimeter großen Pistolen befand sich das Kaliber 9 Millimeter Luger. 
Ich hoffte, dass es nicht in der Kanone war, die eben einen rundlichen Abdruck in meiner Kopfhaut hinterließ. 

Das erste Mal im Leben fühlte ich mich als Teil von etwas Großem. Ich drückte den Rücken durch, ich wollte aufrecht stehen, wenn ich erschossen würde. 

Ich konnte meinen eigenen nach Elend und Armut stinkenden Körpergeruch wahrnehmen. Das war mir fast unangenehm. Was sollte der Schütze denken, der hinter mir stand und sich auf seinen Job konzentrieren musste? 

Der Countdown war mittlerweile bei 06:48 Minuten angelangt und der Moderator sprach eben davon, dass die Schießenden anonym bleiben und insbesondere der Todesschütze straffrei davonkommen würde. Dieser erhielt übrigens am Ende den Geldkoffer des Erschossenen. 
Ihr seid also genau die gleichen Trottel wie wir, die vor euch stehen, ging es mir durch den Kopf. Ich fühlte so etwas wie Erleichterung, denn ich konnte davon ausgehen, dass die Person hinter mir ebenso nervös war wie ich. Uns beiden ging gerade der Arsch auf Grundeis.

Beim Stand von 03:23 Minuten erklärte der Goldketten-Moderator, dass keiner der Schützen wusste, ob seine Waffe die geladene war. 
Ein echtes Teufelsspiel habt ihr euch da ausgedacht, ihr Sadisten! Schweiß lief mir über das Gesicht, tropfte ab und lief weiter über meinen nackten Arm bis zu der Hand, die den Koffer fest umklammerte. Wunderbar, jetzt versaute ich auch noch das Geld!   

00:13 – der Talkmaster grinste in die Kamera, dann schaute er uns an. Einen nach dem anderen. 

00:04 – die Pistole wurde fester an meinen Schädel gedrückt. 

00:01 – ich schloss die Augen. Scheiß auf die Disqualifizierung. Der Goldquasten-Moderator sollte nicht das letzte sein, das ich sehe. Ich war zwar eine erbärmliche Null, aber etwas Würde wollte ich doch am Ende meines Lebens behalten.

00:00

Nichts. Kein Schuss. Ich öffnete die Augen. Der Countdown war stehen geblieben. Der Moderator schaute uns immer noch an. Wir schauten ihn an, dann nach links und rechts neben uns. Alle standen regungslos da, brav in Reih und Glied, mit den Koffern in unseren Händen. Die Schützen waren wieder zurück ins Dunkel getreten, ohne einen Schuss abgefeuert zu haben. Kein Abzug war betätigt worden. Niemand war tot.

„Glauben Sie im Ernst, wir töten live im Fernsehen einen Menschen?“ Der Goldpuder-Showmaster lachte laut und wendete sich dann wieder strahlend der Kamera zu. Die Sendung lief einfach weiter und wir Dummköpfe hatten uns vorführen lassen. Für die größte Diskussion sorgte allerdings die Tatsache, dass niemand das Geld bekam.      

Jetzt sitze ich hier und denke zurück an diese paar Minuten der Ungewissheit. Man kann wirklich darüber diskutieren, ob ein solches Live-Experiment ethisch vertretbar ist und ob es an Unmenschlichkeit grenzt. Immerhin wurde mit Menschenleben gespielt, wortwörtlich. 

Aber mir ist das alles egal, denn mir geht es gut. So gut es einem eben geht, wenn man einen Koffer mit einer Million Euro unter dem Tisch stehen hat. 
Ihr wisst ja, gestohlen habe ich schon immer.

» Zur Kurzgeschichte “Ein Rätsel in Saarbrücken”

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