KRIMI-KAPITEL 1 • Der neue Job im Impfzentrum

Fritzi öffnete ihren Spind und sah direkt in zwei weitaufgerissene Augen. Ein Schrei kroch ihr die Kehle hoch, ihr Blut begann zu kochen: Der abgetrennte Kopf eines Toten füllte fast den gesamten Platz in ihrem kleinen Schrank aus. Er glotzte sie an. Und das war noch nicht einmal das Aufregendste an ihrem ersten Arbeitstag im Impfzentrum.

Aber von vorn.

Zermürbende Isolation. Nagende Einsamkeit. Epochale Entbehrung. So könnte man Fritzis Gefühlswelt der letzten Monate beschreiben. Gelegentlich schlug sie sich gedanklich selbst ins Gesicht: Reiß‘ dich zusammen, Fritzi. Es geht um Solidarität und ausnahmsweise mal nicht nur um dich! – Stimmt, hatte sie sich dann selbst geantwortet und fast zeitgleich von einem Ausflug nach Paris geträumt. Oder von einem Besuch im Biergarten. Oder von einem ganz gewöhnlichen Einkauf im Baumarkt. Sie hatte schon lange keine Schraube mehr gekauft. Alles wäre ihr mittlerweile recht gewesen. Sie wäre sogar mit ihrem Nerv tötenden Nachbarn Felix einen Kaffee trinken gegangen – wählerisch konnte man schon lange nicht mehr sein. Doch die Pandemie verhinderte momentan selbst zarteste Pflänzchen der Liebe. Eigentlich verhinderte sie jeglichen sozialen Kontakt, Reisen oder Einkaufen. Genau dies war auch der eigentliche Zweck des Shutdowns. Fritzi konnte das begreifen, auf die Dauer jedoch nur schwer ertragen. Mittlerweile war es Januar. Und so suchte sie nach einem Ausweg, ohne dabei einen Schaden in der Gesellschaft anzurichten. Eines dieser neuen Impfzentren schien die Lösung zu sein, denn es wurden Mitarbeiter gesucht. Dort zu arbeiten erschien ihr passender, als eine Corona-Party in der Kanalisation auszurichten. 

Eine Woche später stand sie mit ihrer besten Freundin Wilma vor der umfunktionierten Eventhalle, über dem Eingang prangte in grünen Buchstaben „Impfzentrum“. Nur kurz waren sie irritiert von dem Mann, der rechts neben der Tür auf und ab ging, ein Schild in der Hand: „Macht die Freibäder auf!“ hatte er darauf gemalt, verziert mit Herzen und aufgeklebten Einhörnern. Ein Mitarbeiter der Security stapfte hinter ihm her und redete auf ihn ein. „Bist du sicher, dass wir hier nicht in der Klapse gelandet sind?“ fragte Wilma. Fritzi zuckte mit den Schultern. Irgendwie ahnte sie, dass dieser neue Job jede Menge Ärger bringen würde.    

Fritzi hechtete dem Teamleiter, einem kaukasischen Typ mit schulterlangen Schnittlauch-Haaren, durch die Gänge des Impfzentrums hinterher. Wilma war einem anderen Team zugeteilt worden. Fritzi versuchte, sich die Orte einzuprägen, die Noah ihr zeigte: „Hier wir. Die dort. Da die Impfärzte, die die Leute impfen.“ Ihr Blick fiel auf einen der Impfärzte von kleiner gedrungener Statur, der zwischen den einzelnen Zellen hin und her huschte, in denen die Impfungen verabreicht wurden. Sie wunderte sich über seine auffällige Hektik, dachte sich aber nichts dabei. Sie lief weiter und geradewegs in Noah hinein. Der sehr große Teamleiter war abrupt vor einer sehr kleinen Person stehen geblieben und stemmte seine Hände in die Hüften: „Steffi, du musst wirklich schneller arbeiten. Und das ist Franzi, eine neue Kollegin.“ „Fritzi!“ sagte Fritzi, aber Noah war schon weitermarschiert. Die kleine Steffi winkte ihr noch zu, da tauchte in Fritzis rechtem Blickwinkel unerwartet der schönste Mann auf, den sie je in ihrem Leben gesehen hatte: Thor, Superman und Aquaman in einer Person. Die Zeit schien plötzlich still zu stehen. Die Luft war wie elektrisiert, Fritzis Herz pochte bis zum Hals. Der Captain America ihrer Träume bewegte sich wie in Zeitlupe von rechts nach links durch ihr Sichtfeld. Sie schnappte nach Luft. „Franzi, wo bleibst du denn?“ Noah stand vor ihr und schaute sie streng an. „Fritzi!“ sagte Fritzi und sah an ihrem Teamleiter vorbei – doch der Wunderschöne war verschwunden. Sie nestelte nervös an ihrer FFP2-Maske, während sie pflichtschuldigst dem Rest der Einweisung folgte. Von nun an war Fritzi dafür verantwortlich, dass die Impflinge die Laufwege einhielten und auf dem großen Gelände nicht verloren gingen. Die meisten folgten ihrem Fingerzeig ohne Kommentar. Einige ältere Herren lächelten ihr zu oder merkten an, wie angenehm es sei, von einer so schönen Frau gesagt zu bekommen, wo es lang ging. Sie begann, Vergnügen an ihrer Arbeit zu finden.    

„Bist du die Neue?“ Fritzi drehte sich um und sah in Captain Americas blaue Augen, er hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt. Seine blonden Haare waren mit duftendem Öl in eine perfekte Form gebracht. Fritzi stand wie vom Donner gerührt und fühlte sich gar nicht wie Wonder Woman. Sie brachte kein Wort heraus und ihr wurde heiß. Schweißperlen kämpften sich durch die Poren ihrer Stirn, ein Tropfen löste sich und begann, langsam herab zu laufen. „Ich bin Adrian“ sagte der Schöne und fing mit seiner Fingerkuppe den Schweißtropfen auf. Er zwinkerte ihr zu und ging weiter. Fritzi konnte kaum glauben, dass er einer ihrer neuen Kollegen war. Sie schaute ihm nach, bis er in der Menge verschwand. Sie war noch dabei, sich wieder zu sammeln als Wilma um die Ecke kam: „Fritzi, der Job ist sensationell. Hier gibt es ein paar wirklich hübsche Kollegen! Solche Leute treffe ich bei mir im Dorf sicher nicht.“ Wilma grinste unter ihrer FFP2-Maske gerade noch über das ganze Gesicht, als plötzlich ein gellender Schrei durch das Impfzentrum hallte. Markerschütternd. Die beiden schauten sich erschrocken an – und rannten los.   

Im Pausenraum standen die Mitarbeiter um etwas herum, das Fritzi und Wilma zunächst nicht erkennen konnten. Lautes Stimmengewirr erfüllte die Luft, Schluchzen und Weinen war zu hören. Die beiden drängelten sich nach vorne und bereuten sofort, so neugierig gewesen zu sein. Auf dem Boden lag ein abgetrennter Daumen in einer dunklen Blutlache. Die kleine Steffi von vorhin kotzte direkt in einen Mülleimer, der herumstand. Fritzi wendete angeekelt ihren Blick ab und unterdrückte den Würgereiz. Am Eingang zum Pausenraum sah sie den dicklichen Impfarzt stehen, der zuvor so ruhelos hin und her gehetzt war. Als er bemerkte, dass Fritzi ihn anschaute, sah er aus wie ihr kleiner Bruder, wenn er was angestellt hatte. Der Arzt murmelte sowas wie „Ich muss weg!“ und verschwand. Sie schaute sich um, aber niemand sonst hatte ihn gesehen. Wer bist du und was soll dieser verdächtige Abgang? Und wo zum Geier bin ich hier rein geraten? fragte sich Fritzi und stolperte zu ihrem Spind. Sie öffnete ihn und sah direkt in zwei weitaufgerissene Augen.

Fortsetzung folgt…

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[Für Christine,
Du gehörst in die Frühschicht!]

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