Fritzi taumelte rückwärts. Ein paar Schritte nur, dann stürzte sie. Sie wollte schreien, doch es kam nur ein Krächzen aus ihrer Kehle. Wilma machte eine schnelle Vorwärtsbewegung, um zu sehen, wovor Fritzi zurückgeschreckt war. Ein Blick in den Spind offenbarte das Grausige: Der darin abgelegte Kopf eines Toten sah zum Fürchten aus. Er hatte klebrige Blutspuren im Inneren des Schrankfachs hinterlassen und stank. Im Gegensatz zu Fritzi brach aus Wilma ein Schrei. Eigentlich war es eher ein schrilles Kreischen.
Die Kollegen im Impfzentrum, die laut diskutierend um den blutigen Daumen auf dem grauen Teppich des Pausenraums herumstanden, fuhren erschrocken herum.
Der Teamleiter, der eben noch Fleiß angemahnt hatte, war der erste bei den beiden Freundinnen. Niemand hätte seine Reaktion erwartet: Er fiel einfach in Ohnmacht.
Eigentlich sollte der neue Job im Impfzentrum für Fritzi eine interessante Wende im eintönigen Lockdown während der Corona-Pandemie sein. Sie hatte dabei jedoch eher an Gespräche mit Menschen gedacht. Oder an den Austausch von Witzen. Oder daran, endlich Mister Right zu finden. Ein amüsanter und dabei sinnstiftender Zeitvertreib sollte es sein und kein Katapult in eine Katastrophe aus Tod und Blut. Und schon gar nicht an einem Ort, der für Hoffnung stand. Hoffnung darauf, dass diese lästige Pandemie früher oder später nur noch eine Erinnerung war. Oder Hoffnung darauf, dass wenigstens diese verdammten Bauhäuser bald wieder öffneten.
Ein Kollege packte Fritzi kräftig am Arm und half ihr schwungvoll auf die Beine. „Du bist wohl ein echter Pechvogel! Ich bin Pierre.“ Pierre war ein Hüne und überragte die meisten um einen ganzen Kopf. Viel konnte sie vom Gesicht wegen der FFP2-Maske nicht erkennen, aber die grünen Augen gefielen ihr.
Noah, der Teamleiter, erwachte aus seiner Bewusstlosigkeit: „Ruft die Feuerwehr!“.
„Der muss sich ziemlich den Kopf gestoßen haben!“ meinte Pierre und kicherte, „wir haben die Polizei längst gerufen.“ Fritzi näherte sich der Schar von Kollegen, die sich vor ihrem Spind versammelt hatte – der blutige Daumen auf dem Boden hatte gegen den abgetrennten Kopf in Sachen Faszination nicht den Hauch einer Chance.
Fritzi erinnerte sich an den molligen Impfarzt, der vor ein paar Minuten an der Tür gestanden und sich dann so schnell verdrückt hatte. Er war nirgendwo zu sehen, obwohl immer mehr Mitarbeiter neugierig in den Pausenraum strömten. Sie nahm sich vor nach ihm zu suchen, als plötzlich ein Mann mit kurzen dunklen Locken auf der Bildfläche erschien. Er ging mit strammen Schritten schnell an allen anderen vorbei und betrat wild gestikulierend den Raum.
„Das ist der Oberboss hier“, flüsterte Pierre zunächst und rief dann laut: „Hallo Professor Truschinski! Gut, dass Sie da sind!“ Der Professor beachtete den winkenden Pierre gar nicht und stellte sich vor die Menge am Spind. Sein Blick fiel in das Schrankinnere, dann auf die Anwesenden. Er holte tief Luft. „Alle Mitarbeiter verlassen sofort diesen Raum und finden sich in der Kantine ein!“ Sein Blick war streng, seine Stimme verriet Nervosität.
„Sie da!“ Der Professor zeigte mit seinem Finger auf Fritzi. „In den Impfzellen sitzen ein paar Polizisten, die wir gerade eben geimpft haben. Holen Sie die her!“ Fritzi nickte nur. Höflichkeit schien vielen Menschen während der Pandemie abhanden gekommen zu sein. Immerhin erklärte sich Pierre eifrig bereit, sie zu begleiten. Sie gingen die Flure des Zentrums entlang bis ans andere Ende der Halle. Dort befanden sich die Zellen, in denen die Impfungen verabreicht wurden. Impflinge und Personal standen ratlos und flüsternd herum. Alle Prozesse waren zum Stillstand gekommen.
Am Ziel eingetroffen sahen sie, dass ungefähr ein halbes Dutzend Polizisten – allesamt in Uniform – ungeduldig auf den Plastikstühlen hin und her rutschten. Ihnen waren die Schreie und das Weinen natürlich nicht entgangen. Die Impfärzte hatten sich ihnen jedoch mit aller Macht entgegengestellt: Man musste sich an die Laufwege halten und konnte nicht einfach so mir nichts dir nichts wegen ein paar Schreien entgegen der Pfeilrichtung gehen.
„Kommen Sie! Es gibt Tote!“ rief Pierre aufgeregt und schubste Fritzi beiseite. Ein Polizist, dessen Bart links und rechts unter der Maske hervorquoll, erhob sich als erster vom Stuhl, blieb jedoch mit seiner Waffe und der Gürtelausrüstung an den Armlehnen hängen. So machte er nach vorne gebeugt ein paar unbeholfene Schritte, den Stuhl am Gurt hängend. Er sorgte damit ungewollt für eine groteske Komik.
Pierre musste laut lachen und fing sich dafür einen bösen Blick des Beamten ein. Das muss doch alles ein schlechter Scherz sein! dachte sich Fritzi. Sie sagte zu den Polizisten „Folgen Sie mir bitte!“, zog Pierre hinter sich her und ging eilig Richtung Pausenraum zurück, wo Professor Truschinski am Eingang nervös hin und her tippelte.
Die eben geimpften Polizisten betraten den Raum und begannen damit, die Örtlichkeit zu sichern. Fritzi blieb mit Pierre vor der Tür stehen und sie überlegten, was sie nun tun könnten. Pierre prüfte den Sitz seiner Frisur im Spiegelbild der Sicherheitsglastür, die nach draußen führte. Die Security ging davor auf und ab.
Auf einmal entdeckte Fritzi den verdächtigen dicken Impfarzt, den sie sich vorgenommen hatte, zu suchen. Sie hastete zu einem der Sicherheitsleute, die den Eingang verschlossen hielten: „Holen Sie sofort diesen Mann rein!“ Sie deutete auf den Arzt, der durch seine weiße Kleidung eindeutig als solcher zu erkennen war.
Ich werde dich kriegen, du fettes Früchtchen! Fritzi war sich sicher, dass dieser Arzt etwas mit dem Toten in ihrem Spind zu tun hatte. Noch bevor sie sich wieder umgedreht hatte, um Professor Truschinski aufzusuchen und ihm von ihrem Verdacht zu berichten, hörte sie eine leise Stimme an ihrem Ohr. Jemand war unbemerkt von hinten an sie herangetreten und zischte etwas, das Fritzi kaum verstehen konnte. Als ihr jedoch klar wurde, was ihr diese Person zugeflüstert hatte, packte sie das kalte Grauen. Langsam drehte sie sich um.
Fortsetzung folgt …
» ZUR SPOTIFY-PLAYLIST
» ZU KAPITEL 1 • Der neue Job im Impfzentrum
» ZU KAPITEL 3 • Schlechte Witze
» ZU KAPITEL 4 • Ein bisschen wie Tinder
» ZU KAPITEL 5 • Giftspritze
[Für Annika,
Kabine 2 bitte!]
3 Kommentare
Sehr gut geschrieben!!!
Ich freu mich auf die Fortsetzung….!!
Du fettes Früchtchen!!!! Auch sehr gut… 🧐🧐🧐 Moment… hast Du das schon mal zu mir gesagt?!?!
Annika Kabine 2 😂😂😂